Auf ein sonnenreiches und trockenes Jahr 2022 folgte ein zwar insgesamt warmes, aber dank einer sehr guten Wasserversorgung ausgewogenes Jahr. Viele 2023er-Weine sind wunderbar hellstrahlend mit expressiver, multidimensionaler Frucht statt den nur Zitrus oder vordergründigen Tutti-Frutti-Steinobstnoten. Der feuchte Spätsommer brachte zwar auch große Fäulnisprobleme mit sich, wer aber streng selektioniert hat und das gesunde Lesegut schnell auf die Kelter brachte, konnte exzellente Weine erzeugen. Drei Tage lang haben wir uns im Team mit Frank Kämmer und Jürgen Mathäß durch die glücklicherweise etwas reduzierte Menge von rund 460 (!) GGs verkostet.
Wer jetzt denkt, es sei ein Easy-Going-Jahrgang gewesen, der irrt sich. Es ist auch kein Jahrhundertjahrgang wie gern propagiert wird, sondern ein trotz aller Güte heterogenes Jahr. Denn selten zuvor trennte sich die Spreu derart vom Weizen. Und es gab natürlich auch – oder gerade – aus 2023 einige schwache Weine, die dem selbst gesteckten Anspruch eines «Grand Crus» nicht gerecht wurden.
Die Herausforderung lag darin, gesundes Lesegut auf die Kelter zu bringen. Einer streckenweise extremen Trockenheit folgten wochenlange starke Niederschläge, die wiederum in einen extrem warmen Spätsommer mündeten. Es drohte ein zweiter 2006er-Jahrgang mit galoppierender Fäulnis zu werden. Dank großer Manpower, zügiger Lese und etwas kühleren Nachttemperaturen blieb dies den Winzern (und auch den Verkostern und Konsumenten) erspart. Hinzu kam, dass die meisten Rebsorten nahezu gleichzeitig reif wurden. Das stellte einige Winzer vor logistische Probleme. Bei Septembertemperaturen von bis zu 30 Grad mussten sie zudem ihre Trauben in den kühlen Nacht- und Morgenstunden einholen, damit der Most nicht überhitzt in den Fässern landete. Ähnlich wie die erste Septemberwoche des Jahres 2024.
Vielerorts musste in den Weinbergen stark vorselektiert werden, was einerseits die Mengen reduzierte, andererseits auch gute Qualitäten sicherte und einige Spitzenqualitäten ermöglichte. Beim Rheingauer Spitzenbetrieb Kühn lag der Ertrag im Schnitt bei 30 hl/ha.
Wer aber mit dem Vollernter durch die Rebzeilen ist, hatte natürlich viel Faules dabei.
Zu den Gewinnern des Jahrgangs zählen neben dem Riesling und den weißen Burgundersorten auch die Silvaner. Die Gewinnerregionen sind die Nahe, die Pfalz und Rheinhessen und mit Blick auf die Silvaner auch Franken. Die 2022er Spätburgunder gehören mit zum Besten, was bisher in Deutschland produziert wurde. Auch hier ist zwar nicht alles Gold was glänzt, aber insgesamt zeigen sich die Weine mit feiner Frucht und Tannintextur sowie mit mehr Finesse und Druck. Jedenfalls scheint die Zeit des exzessiven Holzeinsatzes und der vordergründigen überreifen Aromen mit geliert wirkender Frucht der Vergangenheit anzugehören. Allerdings sind die fälschlicherweise als «burgundischer Stil» bewusst herbei geführten Reduktionsnoten immer noch «in». Mein Kollege Frank Kämmer, einer der besten und profiliertesten Burgund-Kenner, nimmt das in seinem Kommentar kritisch unter die Lupe.
Gute Vorlage der Natur
Der 2023er ist alles andere als homogen, aber insgesamt ist der Jahrgang von Frische, beschwingter Leichtigkeit und in den besten Fällen von großer Strahlkraft geprägt. Wer seine Weinberge im Griff hatte und bereit war, die faulen Trauben radikal auszusortieren und streng zu selektionieren, konnte große Weine machen. Das Risiko von Fehlaromen war sehr groß, dann musste man im Keller viel korrigieren, was bei einigen Weinen auch schmeckbar war. Sie wirken nur vordergründig gut, oft mit plakativer Frucht, sind aber letztlich substanz- und seelenlos. «Die Vorlage der Natur war gut, man musste sie zu nutzen und umzusetzen wissen», erzählt mir Klaus Peter Keller bei meinem Besuch vor Ort. Seine Kollektion gehört wieder zu den besten des Landes mit rassiger Schönheit und Finesse. Damit hat er sich zu seinem 50. Geburtstag selbst ein Geschenk gemacht, denn sein Geburtsjahr 1973 war nicht wirklich groß. «Das spornte uns zusätzlich an», sagt er mir mit freudvollen Augen.
Auch für Dönnhoff Senior ist klar: «Die Vegetationsperiode war super, nur während der Lese wurde es hektisch, weil es zu warm war. Man musste eben die negativen Trauben sehr aufwendig aussortieren», sagt er mit der Erfahrung von 53 Jahrgängen.
Der Jahrgangsverlauf – «Sehr schnell zu spät»
Auf einen vergleichsweise milden Winter folgte ein guter Start in die Vegetationsperiode, der im langjährigen Mittel lag. Eine Periode mit sonnigem und trockenem Wetter im Juni führte zu einer guten und vergleichsweise gleichmäßigen Blütezeit.
Im Juni und größtenteils auch im Juli war das Wetter sehr trocken, was die Winzer auf einen weiteren heißen Jahrgang hoffen ließ. Ende Juli schlug das Wetter jedoch um, und der Rest des Sommers war von viel Regen geprägt. Die Sonneneinstrahlung und die Temperaturen hielten sich im normalen Rahmen, so dass sich die Vegetation zügig entwickeln konnte.
Wie durch ein Wunder wendete sich das Blatt in letzter Minute und es hörte vielerorts im September auf zu regnen und fing erst am Ende der Lese wieder an. Es folgte eine sonnige Periode, die aber auch zu warm war, um sich zurückzulehnen. Der Fäulnisdruck machte die Ernte anspruchsvoll, denn die schnell fortschreitende Fäulnis minderte über Nacht die Qualität der Trauben. Die einzige wirkungsvolle Gegenmaßnahme war eine zügige Lese, um die gesunden Trauben schnell keltern zu können. Natürlich brauchte man dazu ausreichend Erntehelfer und eine gute Logistik. Vor allem das Warten auf die edelsüßen Weine war besonders anspruchsvoll, da Zeitdruck herrschte, denn neben der «guten» gab es eben auch viel «schlechte» Fäulnis, vor allem Graufäule. «Man konnte sehr schnell zu spät sein», resümiert Theresa Breuer, die den feuchten Herbst mit einem lachenden und mit einem weinenden Auge sieht. «Für den Rüdesheimer Berg war das Wasser essenziell und dank der Drainage auch gut verkraftbar, für tiefgründige Böden war es teilweise zu viel». Das sorgte für «nasse Füße», was sich – paradoxerweise ähnlich wie bei Trockenheit – bremsend auf die Reifeentwicklung auswirkte. Und Frank Schönleber bestätigt die Turbo-Lese: «In meiner Kindheit waren wir nie so früh fertig»
Spreu vom Weizen – selten so weit auseinander
Ein weiteres Zeichen für das herausfordernde Jahr ist die Differenz zwischen der kleinen Spitze und dem Rest. Kennzeichnend für den Jahrgang ist der diffizile Umgang mit den teils heftigen Regenfällen zum nahenden Erntebeginn und der erforderlichen Turbo-Lese. Neben Manpower war auch eine kluge Lesestrategie essenziell. Frank Schönleber sagt deutlich: «Tatsächlich wurde alles auf einmal reif und die Zeit zwischen gerade reif und überreif war wirklich kurz. Deswegen haben wir erst uns erst auf die Top-Qualitäten konzentriert, wo wir nur wenige Trauben verwerfen mussten». Danach wurde der Großteil der Gutsweine selektiv geholt, erklärt er.
So offenbarte sich beim Verkosten schnell ein deutlicher Qualitätsunterschied. Selten driftete die Spitze so derart vom Mittelfeld ab. Aber auch innerhalb eines Gutes waren die GGs teils sehr heterogen. Ein Hinweis darauf, dass es ein herausforderndes Jahr des Terroirs war. Deswegen sollte man sehr selektiv einkaufen.
Spitzenwinzer: längst in eigener Liga
Die besten 2023er sind jahrgangstypisch engmaschig mit Substanz, finessenreicher Frucht, Kühle, Feinheit, Spannung und Frische. In unserer engen Spitze finden sich grandiose Weine von den üblichen Verdächtigen, die längst in einer eigenen Liga spielen.
In Rheinhessen sind das Hans Oliver Spanier mit den beiden Weingütern aus dem Wonnegau und Roten Hang, Klaus Peter Keller und Wittmann, aber inzwischen auch Gunderloch, Bischel und Wagner-Stempel sowie der Neu-VDP’ler Knewitz.
An der Nahe kommen die besten Weine von Tim Fröhlich, Cornelius Dönnhoff und Frank Schönleber und zunehmend von Caroline Diel, die ihren ganz eigenen Stil findet. Aber auch Joh. Bap. Schäfer und Kruger-Rumpf setzen zunehmend starke Akzente.
Im Rheingau punkten Kühn, Schloss Johannisberg, Weil (u.a. mit einigen grandiosen Edelsüßen wie die Auslese Goldkapsel und die Trockenbeerenauslesen), von Oetinger und Breuer, in der Pfalz Bürklin-Wolf, Rings, Christmann, Rebholz und Philipp Kuhn. An der Mosel gab es Außergewöhnliches nur von Clemens Busch und teils von Heymann-Löwenstein, teils beachtliche Weine lieferten Schloss Lieser, Fritz Haag, Van Volxem, Peter Lauer und Maximin Grünhaus. In Franken überzeugten Top-Betriebe wie Luckert, Weltner, Knoll, Rainer Sauer und Max Müller. Auch das größere Bürgerspital liefert regelmäßig sehr gute Weine.
Größere Deklassierung erforderlich
Auch wenn es die Bewertungen auf den ersten Blick gar nicht so drastisch ausdrücken und der Jahrgang 2023 womöglich der beste seit 2019 ist, gab es einige schwache oder eben ausdruckslose Weine, die dem eigenen hohen Grand-Cru-Anspruch des VDP nicht entsprechen. Wenn man eben nicht über das Jahr hinweg und bei der Lese sauber im Weinberg gearbeitet hat, musste man im Keller korrigieren, was selten gut geht. Es fehlt dann die natürliche Harmonie und manche Weine wirken «technisch» solide gemacht, aber eben ohne Lagen- und Herkunftscharakter, den man ja in einem «Grand Cru» als Markenversprechen und Verkaufsargument propagiert.
Fragliche Weine, die einen Eindruck von süßsauer hinterließen, hatte ich leider besonders oft an der Mosel, die ich so sehr schätze und liebe. Aber auch in anderen Regionen gab es wieder Weine, die man als gut gemacht bezeichnen kann, die aber wenig Substanz, Tiefe und (Lagen-) Charakter hatten. Nicht alle sind hier freilich aus Platzgründen dargestellt. Viele Weine mit 16/20 Punkten und darunter finden Sie in unserer Datenbank.
Wie in vielen anderen Ländern üblich, fehlt es hier oft am Willen und Mut, die Weine in schwierigen Jahrgängen zu deklassieren oder eben die Erträge so weit runterzufahren, dass Weine herauskommen, die dem eigenen hohen Anspruch entsprechen. So hat beispielsweise Peter Bernhard Kühn in 2022 auf seinen Landgeflecht aus dem Herzstück des Doosbergs verzichtet, weil es für seine Rarität nicht reichte. Eine Ausnahme.
Gewinnerregionen des Jahrgangs
Sieger des Jahrgangs 2023 sind für mich erneut die Regionen Rheinhessen, Nahe und Pfalz. Diese drei Regionen machen bei den Rieslingen die Top 10-Plätze fast alleine unter sich aus. Dort finden sich die besten Weine von Keller, Battenfeld-Spanier, Kühling-Gillot, Schäfer-Fröhlich, Dönnhoff, Emrich-Schönleber, Bürklin-Wolf und Rebholz. Recht homogen ohne große Ausreißer nach unten und nach oben zeigte sich der Rheingau mit territorial kühlen Bergweinen vom Gräfenberg (Weil) und Rüdesheimer Berg (allen voran Kühns neuer und auch Breuers Schlossberg) und mit Schloss Johannisberg hat sich in den vergangenen Jahren ein Großer eindrucksvoll zurück an die Spitze gemeldet. Allerdings waren die meisten Weine im Rheingau aus 2022, da der Rheingau die Vermarktung komplett um ein Jahr verschoben hat, was eine differenzierte Einschätzung erfordert und gerade in solchen diversen Jahrgängen wie 2022 und 2023 die Frage aufwirft, ob das wirklich Sinn macht.
Die Mosel zeigte sich heterogen und insgesamt eher schwach. Hier punkteten nur die bekannten Spitzenwinzer. Allerdings gibt es brillante Kabinette und Spätlesen, die einen großen Spannungsbogen liefern und vielleicht wie kaum ein trockener das Terroir am besten zum Ausdruck bringen. Die besten edelsüßen Weine sind umwerfend.
Die Gewinnerweine des Jahrgangs
Ausgepunktet haben wir bis zu der herausragenden Note von 19.5/20 (98/100). Das erreichten in diesem Jahr sogar sechs Weine: Kellers energiegeladene Abtserde und Pettenthal, der sicher zu den besten ever gehört, machten mich atemlos. Auf Augenhöhe steht der FINAL von Tim Fröhlich, der trotz Kellerneubaus eine der besten Kollektionen lieferte. Auch sein Felseneck spielt in der allerobersten Liga mit. Zu diesen Jahrgangssiegern gehören auch gleich drei Weine von Hans Oliver Spanier. Aus seinem ureigenen Kalkfels-Terroir hat er aus dem Frauenberg (19+/20) und vom roten Tonschiefer-Terroir des Rothenbergs (19.5/20) zwei berührende Weine gemeißelt, die mich ob ihrer mühelosen Eleganz innehalten ließen. Dabei ist der Rothenberg ein spannender, mineralisch druckvoller, territorialer Riesling vom Roten Hang, der zeigte, was man dem sonst unter der Trockenheit ächzenden Roten Hang an Weltklasse-Weinen abringen kann, wenn die Reben dort Wasser bekommen. Dazu kommt der grandiose Kreuzberg, der im Zellertal an der Grenze zu Rheinhessen wächst, aber der Pfalz zugehörig ist.
Im Rheingau erreichte Peter Jakob Kühn dieses Attribut mit dem spektakulären Erstlingswerk aus dem Rüdesheimer Schlossberg (19.5/20).
Die ebenfalls grandiose Note von 19+/20 erhielten zwei weitere Weine aus Rheinhessen. Wittmanns bärenstarker Morstein, den ich noch nie so stark erlebt habe – ein ebenso großer, territorialer Riesling von beeindruckender Präzision sowie Kühling-Gillots Pettenthal. Aus der Pfalz kommen folgende Weine in die Champions League. Rebholz‘ hocheleganter, gelassener Kastanienbusch, Christmanns phänomenal präziser und scharf konturierter Idig und der nicht minder grandiose Ölberg sowie Battenfeld-Spaniers Kreuzberg (s.o.). Die Nahe punktet hier mit dem mineralisch-rauchigen Auf der Ley von Emrich-Schönleber, der noch besser ist als im Vorjahr.
Auf 19/20 kommen immerhin noch zehn Weine. Sie verdienen das Attribut «Weltklasse». Auch 18.5/20 und 18/20 sind herausragende Weine, die zu den besten des Landes gehören und gerne auf die Kaufliste dürfen. Hier findet man den größten Unterschied zum Vorjahr. Es sind deutlich weniger Weine, die diese Punktzahl erreicht haben. Rheinhessen sehe ich in der Spitze in diesem Jahr sogar einen Tick vor der Nahe. Von hier kommen die meisten Siegerweine, vor allem profitierte endlich mal wieder der Rote Hang von der guten Wasserversorgung. Aber auch aus den Wonnegauer Spitzenlagen wie Morstein und Brunnenhäuschen kamen Top-Weine.
In der Pfalz, die in diesem Jahr überwiegend von meinem Kollegen Jürgen Mathäß bearbeitet wurde, war das Bild zweigeteilt: Die Gewinner kommen aus der Südpfalz und aus der Nordpfalz, aus der berühmten Mittelhardt überzeugten fast nur Bürklin-Wolf und Reichsrat von Buhl. Auch Rings lieferte wieder viele großartige Weine – in Weiß und Rot – und etabliert sich an der Pfälzer Spitze. Ein toller Aufstieg der beiden Rings-Brüder. Pfeffingen kratzte mit dem Weilberg an der 19 Punkte-Marke. Grandiose Weine kommen auch von Ökonomierat Rebholz und Christmann.
Im Rheingau siegten bei den 2023ern Kühns Doosberg und sein Premierenjahrgang aus dem Rüdesheimer Berg Schlossberg zusammen mit Schloss Johannisbergs Goldlack (19/20) und Weils Monte Vacano (19/20), den ich erst aus dem Fass und jetzt abgefüllt verkosten durfte. Bei den 2023ern hat Kühns Schlossberg mit 19.5/20 den Vogel abgeschossen. Überhaupt ist seine Kollektion die beste des Rheingaus. Im Ranking dicht gefolgt von Weils noch nie so druckvollen und engmaschigen Gräfenberg. Achim von Oetinger, Andreas Spreitzer und Gunther Künstler lieferten ebenfalls ab. Breuers Steillagen-Weine profitierten von der guten Wasserversorgung und zeigen sich ausgewogen und lagentypisch.
Weiße und rote Pinots – Neue Dimension?
2023 ist auch bei den weißen Pinots ein durchaus gutes Jahr, da die frühen Sorten nicht ganz so von den andauernden Regenfällen betroffen waren. Auffällig ist, dass die oft aufgesetzt wirkenden Reduktionsnoten etwas zurückgefahren wurden. Auch das Holz wird feinfühliger eingesetzt. Während diese Weine in den vergangenen Jahrgängen immer «burgundischer» geworden sind mit geschmeidig-seidiger Eleganz, setzt sich der Trend zu einer eigenen Interpretation des weißen Burgunders weiter fort hin zu lebhafter Rasse und gewissem Grip im Finish. Führend sind nach wie vor Dr. Wehrheim und Rebholz aus der Pfalz und aus Baden Huber und Heger, aber auch Franz Keller sowie Salwey liefern wunderbare weiße (und auch rote) Burgunder.
Fülle an Top-Spätburgundern
Bei den 2022er roten Pinots bestand die größte Herausforderung für die Winzer meist darin, die Spätburgundertrauben zum richtigen Zeitpunkt, also quasi «al dente», vom Stock zu holen, wobei trotz Global Warming bisher eher selten eine so tolle Ausreifung möglich war.
Doch nicht nur der Witterungsverlauf sorgte dafür, dass das Jahr 2022 eine solche Fülle an exzellenten Spätburgundern hervorbrachte wie wohl nie zuvor. Der günstige Jahrgangsverlauf war nur die Vorlage der Natur, die es dann mit dem entsprechenden weinbaulichen Können in Spitzenqualität in die Flasche zu bringen galt. Diese Chance konnten tatsächlich so viele Spitzenbetriebe wie noch nie (aber längst nicht alle!) nutzen. Nie zuvor hat man bei deutschen Pinots so viel Fingerspitzengefühl für Vinifikation, Holzeinbau, Säurebalance und Tanninschliff gesehen. Man spürt, was hier an Potenzial ist, wenn inzwischen beachtliche Winzerkunst auf optimale Bedingungen trifft. Pinot ist ein Geduldsspiel. So auch die Erfahrung im Umgang mit dieser Diva. Deutschlands Spitzenwinzer scheinen nun reif zu sein, diese Herausforderung auf internationalem Top-Niveau zu interpretieren. Umso mehr fielen aber auch jene Weine auf, die nach wie vor auf Überextraktion statt Balance, Kraft statt Harmonie, Würze statt Frucht, Lautstärke statt Finesse und auf scheinbare Internationalität statt Authentizität setzten.
Die Verkostung der 2022er Spätburgunder brachte noch einen weiteren, sehr bemerkenswerten Aspekt ans Licht: Gerade dort, wo die Balance des Pinots und die Finesse der Vinifikation am höchsten sind, scheint auch die Typizität des Terroirs am besten zum Ausdruck zu kommen. Somit nähern wir uns von terroirbezogenen Herkünften statt allgemein vom «deutschen» Spätburgunder zu sprechen. Denn die besten Gewächse vom fränkischen Bundsandstein sind dann ebenso unverwechselbar wie die vom Breisgauer Kalkverwitterungsgestein oder vom Kaiserstühler Vulkangestein. Und so stehen heute mit Fürsts Hundsrück, Hubers Wildenstein und Kellers Morstein «Felix» drei Weltklasseweine an der Spitze, die wohl die besten Spätburgunder sind, die je in Deutschland gekeltert wurden.
Fazit: Super Spitze, solides Mittelfeld, schwacher Unterbau
In der Spitze haben wir selten so eine Fülle an großen Weinen gehabt und ausgepunktet. Fünf Mal 19.5/20 bei den trockenen Weißen und drei Mal 19/20 bei den Roten hatten wir ganz selten. In den besten Fällen vereinigt sich die Reife des Jahrgangs mit der Frische, die das ausgewogenere Jahr bot. Die Top-Weine bieten Tiefe, Komplexität, Substanz, Länge und zeigen vor allem das, was sie versprechen: Herkunft oder zumindest Wiedererkennbarkeit, verbunden mit einer grandiosen territorialen Ausprägung. Selten haben wir so eine Spreizung bei den Punkten gesehen. Allerdings darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir hier in der Spitze von rund 10 bis 15 Weingütern mit rund 30 bis 50 Weinen sprechen. Viel mehr sind es nicht, aber die gute Nachricht ist: Es werden immer mehr. 2023 erforderte sowohl Top-Terroirs mit tendenziell drainierenden Böden als auch Winzerkönnen mit Qualitätsfanatismus, um Spitzenweine zu erzeugen. Davon gab es tatsächlich einige Exemplare, die schon in ein paar Jahren ihre ganz große Klasse zeigen werden. Leider gibt es aber auch einige Weine, die nur technisch solide aber irgendwie auch etwas seelenlos wirken und dem GG-Anspruch nicht genügen. «Mit niedrigen Erträgen konnte man in 2023 Spitzenweine erzeugen», gibt sich Peter Jakob Kühn selbstbewusst. Oder wie Tim Fröhlich im Exklusivinterview mit mir sagte: «Ein Jahr des Fleißes und der Konsequenz». Die Weine haben in allen Prädikatsstufen eine gute Frische, was ja eine willkommene Abwechslung zu den vergangenen Jahrgängen ist. Mein Eindruck ist, dass es gerade an der Mosel ein gutes Kabinett- und Spätlese-Jahr war, was auch einige der probierten Versteigerungsweine zeigten. Einige Kabinette und Spätlesen waren den GGs überlegen: ungemein verspielt und elegant, voller Raffinesse. Wie etwa Prüms grandioser Kabinett aus der Wehlener Sonnenuhr. Auch für ihn ist klar: «Es war wieder ein Kabinett- und Spätlesejahr, wenn man diese Prädikate zuerst gelesen hat. Dann wurde es komplizierter», sagte Clemens Busch. Jedenfalls gehörten seine Weine zu den besten an der Mosel.