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Die Jahrgangsanalyse

Bordeaux Primeurs: Das paradoxe Traumjahr

Die Jahrgangsanalyse
Bordeaux Primeurs: Das paradoxe Traumjahr

Der Jahrgang 2022 wird in vielerlei Hinsicht als legendäres Jahr in die Geschichte eingehen. Es ist ein Jahrgang des Paradoxons: Denn nach großer Hitze und anhaltender Trockenheit erwarteten die Bordeaux-Winzer vieles, aber ganz sicher nicht einen solchen Traumjahrgang. Auch sie selbst können sich diese Frische der Weine kaum erklären! Dabei gab es in der Geschichte von Bordeaux schon einige heiße Jahre, die zur Legende wurden. So zogen einige Winzer und Kollegen 1947 und 1949 als Vergleich heran. Doch so weit braucht man gar nicht zurückzugehen. Auch 1982, 1989, 2009, 2018 und 2020 waren warme und trockene Jahre. Also viel Lärm um Nichts? Nein, das Besondere an 2022 ist tatsächlich, dass es wie ein Jahr sui generis schmeckt. Konzentrierte, dichte Fülle, gepaart mit Finesse und größtenteils seidigen, festen Tanninen sowie einer enormen Frische und Tiefe. Selten zuvor haben wir so viele sexy Weine en primeur probiert, einige Châteaux haben den besten Wein ever gemacht.

Zehn Tage lang sind wir links und rechts der Gironde hoch und runter gefahren. Rund 1.300 km, haben mehrere hundert Muster erst im Glas und dann im Mund hin und her bewegt, zugehört, Fragen gestellt und dabei überall in freudige und sehr entspannte Gesichter geschaut. Und fast überall die gleiche Antwort bekommen: «Wir sind selbst überrascht, wie gut sich die Weine zeigen.» Das erinnert mich daran, dass der erfahrene und weltweit gefragte Star-Önologe Michel Rolland mir vor einigen Jahren in unserer exklusiven Interviewserie Wein.Persönlichkeit des Monats sagte: «Fast alle großen, legendären Jahre waren heiße Jahre. Da sich diese nun häufen, fallen auch die Jahrgänge entsprechend aus.» Nach der mythischen Trilogie und dem kühleren 2021er folgt erneut ein Jahrgang, das als paradoxes Traumjahr in die Geschichte eingehen wird.

Fünf Gründe für das Paradoxon

Doch wie ist das herausragende Resultat trotz großer Hitze und Trockenheit zu erklären?

Es gibt im Wesentlichen fünf Argumente:

  1. Frühe Lese, rund 14 Tage früher.
  2. Anders als etwa 2003 waren die Nächte vergleichsweise kühl.
  3. Es gab seit 2003 regelmäßig Hitzejahre. Sowohl Winzer als auch Rebstöcke haben sich daran gewöhnt und sich angepasst («Resilienz»).
  4. 2022 muss im Kontext mit 2021 gesehen werden. Denn es regnete sehr viel im Vorjahr, sodass die Böden gute Wasserreserven hatten.
  5. Bestes Know-how und Technik, sanfte Vinifikationsmethoden.

Hinzu kommen noch weitere Faktoren: So wurden die Trauben vielerorts direkt nach der Lese abgekühlt, es wurde kürzer und kühler eingemaischt und die Anzahl der «Pump-Overs» deutlich reduziert. Für Glumineau, der über die vergangenen 10 Jahre Pichon Comtesse sukzessive auf Biodynamik umgestellt hat, ist die Resilienz der Rebe ein entscheidender Faktor. «Wir sollten der Rebe und ihrer Fähigkeit, sich an schwierige Wetterbedingungen anzupassen, vertrauen. Sie hatte ganze vier Monate Zeit, um sich an Trockenheit und Hitzewellen anzupassen. Resilienz ist wahrscheinlich der Schlüssel, zusätzlich zu den immer besser darauf abgestimmten landwirtschaftlichen Praktiken», sagt er mir in unserer Exklusivserie Wein.Persönlichkeit des Monats.

Freilich waren wasserspeichernde Böden, wie etwa die tiefgründigen Ton- und Kiesböden im Médoc oder der lehmige Untergrund auf dem Pomerol-Plateau, sowie alte Reben im Vorteil. Alexandre Thienpont, der Grandseigneur von Vieux Château Certan, sagte uns bei unserem Besuch, dass die Pflanzen in 2022 weniger gestresst gewesen seien als in 2020. «2021 hat den Pflanzen eine große Entlastung beschert», erklärt er den Unterschied zum ebenfalls warmen und trockenen Jahr 2020. Allerdings kann er zudem auf alte Reben setzen. Seine ältesten Merlot-Plots sollen 1942 und 1982, seine Cabernet- Franc-Reben zwischen 1958 bis 1960 gepflanzt worden sein. Er sieht im Übrigen Ähnlichkeiten zu 2009, 2019 und 2020.

Technisch anspruchsvolles Jahr – wie beim Teeaufguss

2022 war ein technisch schwierig zu vinifizierendes Jahr. Vor allem gab es wenig oder gar keinen Spielraum für Fehler, selbst wenn es keinen wetterbedingten Druck zur Lese gab. Hatte man einen Tag zu spät geerntet, war die Säure verschwunden, die für die Frische des Jahrgangs ausschlaggebend ist – und die Frucht war marmeladig. Ein wenig zu viel extrahiert – etwa durch zu hohe Temperaturen bei der Weinbereitung – und die Tannine wurden im Abgang brutal adstringierend. Ein wenig zu zaghaft extrahiert, und der Wein schmeichelte mit primärer Frucht, hat aber nicht genug Struktur, um gut zu reifen. Vielerorts wurde auch das Bild des Teeaufgusses bemüht: Nicht ganz so heißes Wasser und kürzere Ziehzeiten mit exakten Timings, um die Bitterstoffe zu vermeiden. Läuft man durch die avantgardistischen Keller in Bordeaux, sieht und spürt man förmlich, welchen Stellenwert das technische Können (und die Ausstattung) sowie die Präzision bei der Weinherstellung hat.

Mini-Beeren: Wassermangel zwingt die Pflanze zum Sparprogramm

Was man oft zu hören bekam: Die Beeren seien sehr klein gewesen. Bei Château Margaux rechnete uns der Technische Direktor Sébastien Vergne das sogar genau vor: Die Cabernet Sauvignon-Beere hätte im Schnitt 0,8 Gramm gewogen, während dieser Wert in normalen Jahren bei über 1,1 bis 1,2 Gramm läge. Das sind 30 bis 40 % weniger Volumen. Schuld daran ist der Trockenstress. Die Pflanze kämpft ums Überleben und drosselt die Produktion. «Schon während des Austriebs gab es kein Wasser mehr, weshalb sich die Reben auf diese Mangellage einstellen konnten. Sie reagierten entsprechend und produzierten kleinere Beeren, weniger Triebe und weniger Blätter», sagte man uns bei Cheval Blanc. Dabei konzentriert die Rebe ja nicht nur Frucht und Anthocyane (Farbstoffe), sondern auch Tannin und Säure. Daher kommt die Frische. Fabrice Bacquery, Technischer Direktor auf Phélan-Ségur, erzählte mir, dass die normalerweise größeren Merlot-Trauben diesmal genauso klein gewesen seien wie die Cabernet Sauvignon-Trauben.

Terroir und Schutz vor Sonnenbrand

Für Marielle Cazaux, Direktorin von La Conseillante, spielt das Terroir eine wichtige Rolle. Der pH-Wert des 2022ers sei der gleiche wie der des Petrus (3,65), was auf den wasserspeichernden Ton im Boden zurückzuführen sei. Man musste im Weinberg alles tun, um die Beeren vor Sonnenbrand und Verdunstung zu schützen. So gingen die Winzer auch ungewöhnliche Wege wie auf Pontet Canet, wo man die Trauben sogar mit Schlamm bestäubt hat, um sie vor Sonnenbrand zu schützen.
Thomas Duroux, Direktor von Château Palmer, fasste es griffig zusammen: «Wir befürchteten gekochte Weine, aber am Ende hat das Terroir gegenüber dem Klima gewonnen.»
Bei Mouton Rothschild, wo wir eine 45-minütige Privataudienz mit dem Head Winemaker und Weingutsdirektor Jean-Emmanuel Danjoy genossen und lange über den Jahrgang sinnierten, stellte dieser bei aller Euphorie die interessante Frage, ob man ob der Fülle und Generosität der Weine die einzelnen Terroirs gut abgrenzen könne. Eine berechtigte Frage, die ich mir schon bei dem vorab stattgefundenen Journalisten-Tasting der Union de Grand Crus stellte, als ich die ersten konzentrierten Margaux- Exemplare verkostete. Später relativierte sich das ein wenig. Letztlich lässt sich dies ohnehin erst in 10 bis 15 und noch besser in 20 Jahren beantworten, wenn die Weine ihre jugendliche Speckigkeit zugunsten von Tiefe und Terroir-Noten ablegen.

Abgrenzung zum Hitzejahr 2003. Kühle Nächte: «Man konnte gut schlafen»

Ein weiterer Punkt war, dafür zu sorgen, dass die Trauben keinen Sonnenbrand bekommen. Eines der Learnings aus 2003, dem ersten richtig heißen Jahrhundertsommer, der als «Zeitenwende» hin zum spürbaren Einfluss der Erderwärmung vielen gut in Erinnerung geblieben ist. Allerdings war 2022 gar nicht so heiß wie 2003 (es gab weniger Hitzetage mit über 30 °C) und ist deswegen auch nicht wirklich vergleichbar. Ich habe gerade alle Premiers Crus und fast alle Deuxièmes aus 2003 nachprobiert (Bericht folgt in WW 07/23). Sie stehen fast alle ausgezeichnet dar, kommen an 2022 aber nicht heran. Auch wenn von der Hitze heute kaum etwas in den Weinen zu spüren ist, wirkt das Tannin etwas spröder und verkapselter als bei den 2022ern, die insgesamt frischer, seidiger und vitaler sind. Graf Stephan von Neipperg von Canon La Gaffelière bringt es mit seinem spitzbübischen Lächeln so auf den Punkt: «2022 war weniger heiß und die Nächte kühler, man konnte gut schlafen».

Fazit: Kaufempfehlung trotz satter Preisaufschläge

Im Jahrgang 2022 hat man alles, und davon sehr viel, könnte man zusammenfassen. Ein moderner Bordeaux aus einem heißen Jahr, der aber bestens balanciert ist und auch die üppigen Alkoholgrade (rund 14 bis 14.7 Vol.-%) gut integriert. Leider sind auch die ersten Preisveröffentlichungen üppig. Cheval Blanc kam mit einem satten Aufschlag von +20,5 %, Angélus sogar mit einem Plus von 32 % daher. Dem Vernehmen nach konnte Angélus im Gegensatz zu Cheval Blanc nicht überzeugen. Viele Händler kürzten ihre Allokationen, es wurde hier (nur) 20–25% vorverkauft. Dennoch gehen wir davon, dass wieder ein Run auf die besten Weine stattfinden wird und dass einige Weine in zwei Jahren, wenn sie ausgeliefert werden, nicht mehr zu diesen Preisen (oder überhaupt nicht mehr) zu haben sind. Deswegen empfehlen wir, sich frühzeitig einzudecken und wie an der Börse gut zu diversifizieren. Denn eins ist klar: Die Best- und Hot Buys aus der zweiten und dritten Reihe sind nach wie vor relativ günstig. Weine, die weltweit auch keinen Preisvergleich scheuen müssen. Einige unserer Top-Empfehlungen finden Sie hier sowie in den jeweiligen Verkostungsnotizen.

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